Schrottgrenze
Das Universum ist nicht binär (VÖ: 10. Februar 2023)
Synthesizer, orchestrale Arrangements und klassische Chöre – die musikalische Reise, die hinter der einstigen Punkband aus dem niedersächsischen Peine liegt, ist erstaunlich. „Wir haben uns nie von der Musikindustrie, einer bestimmten Szene oder kommerziellen Erfolgsansprüchen abhängig gemacht und sind stets unseren gemeinsamen thematischen und musikalischen Vorlieben gefolgt“, erklärt Sängerin* Saskia Lavaux, die SCHROTTGRENZE 1994 gemeinsam mit Gitarrist Timo Sauer gegründet hat. Bassist Hauke Röh und Schlagzeuger Lars Watermann vervollständigen das Quartett, das seit 20 Jahren in Hamburg ansässig ist. Als die Band 2017 – nach einer mehrjährigen Schaffenspause – mit dem Album »Glitzer auf Beton« ihr Comeback feiert, wird der Anspruch an die eigene musikalische Unabhängigkeit besonders deutlich. „Damals nahm die queere Trilogie ihren Anfang, die wir 2019 mit »Alles Zerpflücken« fortgesetzt haben und nun mit »Das Universum ist nicht binär« abrunden“, fasst Saskia zusammen, die mittlerweile auf ihre ganz persönliche queere Transformation zurückblickt. Produziert wurden die besagten drei Platten, die eindeutig eine neue SCHROTTGRENZE-Ära markieren, allesamt gemeinsam mit Kristian Kühl. Neu hingegen ist die Zusammenarbeit mit Oliver Zülch, der in der Vergangenheit bereits Bands wie Die Ärzte, Sportfreunde Stiller und The Notwist tontechnisch supportet hat. Das Ergebnis: Ein neuer, klarer und empowernder Sound, der dem unabhängigen Bandkollektiv sehr gut steht.
Inhaltlich bringt der Titelsong »Das Universum ist nicht binär« die Message direkt auf den Punkt: »Stell dir vor wir wachen auf […] Und es wär‘ der allerschönste Morgen, denn das Patriachat wäre gestorben.« Eine Vorstellung, die zum Träumen einlädt. Doch solange wir in einem binären Geschlechtersystem leben, in dem nur Mann und Frau existieren, werden Zeilen wie diese leider eine Utopie bleiben. Deshalb fordern SCHROTTGRENZE ihre Hörer*innen auf, Trans*-, Inter-, Nicht-Binäre und Agender-Personen im Alltag beizustehen und queere Kämpfe, um gesellschaftliche Teilhabe zu unterstützen. „Ich habe es satt, ausschließlich von hetero-normativen, zweigeschlechtlichen Lovesongs beschallt zu werden“, sagt Saskia, die selbst genderfluid lebt und pansexuell liebt. „Ich möchte meine Gefühle für andere durch die Musik erfahrbar machen und ich wünsche mir, dass cis-geschlechtliche Menschen durch unsere Songs Einblicke in die Lebensrealität von trans* Menschen erhalten.“ Ein Schlüsselelement, dass sich in verschiedenen Songs der Platte wiederfindet, ist die Aufforderung zur Selbstreflexion. So handelt das Lied »Emanzipation und Alltag« beispielsweise davon, die eigenen Privilegien, gemachte Fehler, aber auch persönliche Weiterentwicklungen zu würdigen. Ganz gleich, ob es dabei um den Ausstieg aus patriarchalen Bro‘-Kulturen geht, die geschlechtliche Selbstfindung oder eine selbstkritische Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus.
In Songs wie »Boomer-Tränen« und »Happyland« geht es hingegen um zwei Stereotypen, an denen es vor allem in den Sozialen Medien kein Vorbei gibt: Bei der „Früher war alles besser“-Fraktion des ersten Songs handelt es sich um schlecht gelaunte Wutboomer*innen, die vor lauter Gendergaga nicht mehr klar denken können und die Atmosphäre fortwährend mit ihrer Anti-Fortschritt-Haltung vergiften. »Happyland« handelt wiederum von sogenannten „Good Vibes Only“-Accounts, die zu unrealistischen Optimierungsansprüchen und dem Ausblenden von Miss- ständen verleitet. „Den Song haben wir zusammen mit der Rapperin FINNA geschrieben“, be-richtet Timo Sauer. „Die teils fatalen Folgen der toxischen Positivität auf solchen Kanälen gehen weit über die Manifestierung unrealistischer Schönheitsideale hinaus, denn Diskriminierungs-formen werden dabei ebenso herausgefiltert wie prekäre Lebensumstände und echte Emotionen.“ Am Ende der Platte angekommen, steht fest: Das Universum ist nicht binär und die Welt, in der wir leben, nicht gerecht.
Und dennoch bleibt ein gutes Gefühl zurück. Das Versprechen, in Zeiten des Umbruchs zu leben. Die Gewissheit, nicht (mehr) alleine zu sein.